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Baby und Kind tragen im Mittelalter

Christopher carrying the Infant Christ. The Westminster Psalter folio 220r.Dated to 1200 – 1250, from The Benedictine Abbey of Westminster England.
Detail from The Luttrell Psalter, British Library Add MS 42130 (medieval manuscript,1325-1340), f53r

 

Das Tragen von Babys und Kleinkindern in Tüchern, Schlingen, Gurten oder ähnlichem ist wohl so alt wie die Menschheit und in Mitteleuropa vergleichsweise kurzfristig aus dem Fokus geraten und durch Kinderwagen, Buggys etc. ersetzt worden.

Im 21. Jahrhundert leben wir mit dem Drachentöter in der Großstadt und sind häufig mit Trage oder Tragetuch unterwegs und seltener mit dem Kinderwagen.

Daher ist es für mich keine große Umstellung, den Kleinen (immer größer werdenden) auch im Mittelalter zu tragen.
Bei der Frage nach dem „Wie“ habe ich nicht das Rad neu erfunden, sondern mich auf die großartige Vorarbeit von Christina Curelli gestützt.
Christina ist ausgebildete Trageberaterin. Sie kennt sich also hervorragend damit aus, wie man Kinder bequem, sicher und ergonomisch für Träger und Tragling in Tuch und Co transportieren kann.
Außerdem ist sie auch noch Teil der Wienischen Hantwerkluite, einer Living-History Gruppe aus Österreich, die -sorry, isso- megageile Arbeit leisten, was gut recherchierte, bis zum letzten Faden belegbare und authentische Mittelalterdarstellung angeht.
Aus dieser Kombination heraus hat sie einen Artikel geschrieben, in dem sie die Quellenlage für das Hochmittelalter darlegt und dann die abgebildeten Trageweisen für die praktische Umsetzung so interpretiert, dass sie sinnvoll und sicher sind und sich dabei so nah wie möglich an der Quelle orientieren.

Der Artikel ist hier zu finden:
http://wh1350.at/de/alltag-um-1350/kindheit-im-mittelalter/tragen-von-babys-kleinkindern/

 

Nun hatte ich also eine sehr gute Grundlagenarbeit und es ging darum, eine Form zu finden, die für mich und meinen Sohn funktioniert.

Erster Aufschlag: Leinen-Ringsling. Material stimmt, Form noch nicht.

Als ich anfing, den Drachentöter mit auf Mittelalterveranstaltungen zu nehmen, war ich noch sehr ungeübt mit Tragetüchern. An Rückentrageweisen hatte ich mich noch nicht herangewagt und auch noch nie eine Hüftschlinge mit Schiebeknoten gebunden.
Allerdings trug ich den Drachentöter von Anfang an gerne im Ringsling. Das ist ein kurzes Tragetuch, an dessen einem Ende zwei Ringe angebracht sind, durch die das andere Ende gefädelt wird. Man kennt das Prinzip von manchen Gürteln.

Ein Sling sollte es also sein. Nicht authentisch, aber man könnte zumindest die Optik einer Hüftschlinge nachahmen.
Damit wenigstens das Material stimmte, entschied ich mich für einen Ringsling aus Leinen von Hänschenklein. Um die Ringe zu verstecken und den Schiebeknoten zu faken, wickelte ich das restliche Tuch um die Ringe.

      

Diese Variante ging eine ganze Weile gut. Ich konnte J. bequem und sicher tragen und es sah einigermaßen original aus.
Für Tagesbesuche oder zwischendurch im Lager machte sich das wunderbar.
Ich habe sogar eine Modenschau mit Co-Moderator im Sling moderiert 😉

Bald aber zeigten sich die Schwächen dieser Variante:
1. es war eben nicht ganz authentisch und meine innere A-Päpstin biss sich schon wunde Stellen in die Zunge
2. Der Drachentöter schläft bisher nur getragen ein. Im Sling wird das irgendwann für uns beide ziemlich unbequem. Bei Tagesbesuchen war das nicht so schlimm, aber zum Beispiel beim Hochmittelaltertreffen in Jerichow 2017 griff ich dann für die laaaangen abendlichen Einschläfer-Spaziergänge doch auf den modernen MySol zurück. Die innere A-Päpstin wand sich. (Aber leise, um das Baby nicht zu wecken.)

3. Der Hänschenklein-Sling ist ziemlich dünn. Für ein kleines Baby und im Sommer wunderbar (ich habe den Sling auch oft im „modernen Leben“ benutzt), aber irgendwann wurde aus dem Baby ein Kleinkind und er wurde einfach zu schwer für das dünne Tuch. Sein Gewicht wurde nicht mehr richtig gehalten und er wurde unangenehm schwer auf der Schulter.

Zweiter Versuch: Baumwoll-Tragetuch. Jetzt stimmt die Form aber das Material nicht mehr

Es musste also ein Ersatz her. Mittlerweile war ich deutlich geübter und erfahrener, was Tragetücher und Bindeweisen anging. Ich trage vor dem Bauch, auf der Hüfte, auf dem Rücken,…Ich machte sogar noch einen Termin mit „meiner“ Trageberaterin (der wunderbaren Nina Riedler in Pankow) gemacht, um mir den Hüftsitz mit Schiebeknoten live zeigen zu lassen.
Ich wollte also jetzt ein Tragetuch haben und diesmal sollte alles stimmen! (die innere A-Päpstin atmet erleichtert auf).
So weit die Theorie.
Man sollte ja meinen, es sei nicht so schwer, ein historisches Tragetuch zu rekonstruieren: Leinen-Meterware kaufen, Ränder säumen, fertig ist das Tragetuch, oder?
Aber welches Leinen? Durch die Erfahrungen mit dem zu dünnen Hänschenklein war ich verunsichert. Das Tuch sollte stabil genug sein, um meinen 1 bis 2 oder auch 3 jährigen zu halten. Es sollte aber auch weich genug sein, dass es sich bequem trägt,…
Ich wälzte Foren und Facebookgruppen, bat um Erfahrungen und Tipps, aber das war wohl zu speziell. Ein Hinweis kam jedoch öfter (und auch von Christina Curreli): Von der Firma Didymos gab es vor einiger Zeit ein Tragetuch aus reinem Leinen. Leider wird das nicht mehr hergestellt und ist nur ganz selten gebraucht erhältlich.
Das klang toll. Leinen (also A), als Tragetuch gedacht und daher wohl hoffentlich weder zu dünn noch zu steif. Ich schaltete also Suchanzeigen. Durchkämmte die üblichen Gebrauchtmärkte und Kleinanzeigen. Nichts. Über Wochen und Monate nichts. Leinentücher sind wohl zur Zeit beliebt und es gab einfach keines zum Verkauf.
Die erste Veranstlatung (Der Heerbann Berlin/Brandenburg, zu dem wir als Tagesgäste kommen wollten) rückte immer näher und ich hatte nichts zum Tragen!

Also entschied ich mich für eine Übergangslösung.
Die Firma Yaro stellt relativ günstige Tragetücher her und hat ein naturfarbenes Baumwolltuch im Programm, dass man oft zum sehr kleinen Preis in den Kleinanzeigen findet.
Bevor ich also nun vor lauter Suche nach einer historischen Variante plötzlich ganz ohne irgendeine Variante da stünde, habe ich mit ein gebrauchtes Yaro Broken Twill ersteigert, auf Größe 5 gekürzt und bin damit auf den ersten zwei Veranstaltungen in diesem Jahr gewesen.
(Die innere A-Päpstin macht mit wegwerfender Geste ne Flasche Wein auf).

Der Schiebeknoten und ich werden keine Freunde mehr. Ich mache also einen unter dem Po geknoteten Hüftsitz

Das Yaro tat erst mal, was es sollte, allerdings fand ich es extrem dehnbar, was sich nicht gut mit meiner Neigung zum schlampigen Nachziehen verträgt – ähäm

Jetzt aber! Leinen-Tragetuch von Didymos

Auf dem Flohmarkt beim Heerbann erstand ich recht günstig ein paar Meter festen Leinenstoff. Der sollte es nun werden!
Aber bevor ich auch nur dazu kam, ihn vorzuwaschen oder gar zuzuschneiden, entdeckte ich tatsächlich noch ein Didymos Reinleinen in Größe 5 (genau, was ich gesucht hatte!) auf einer Gebrauchtplattform.
Der Preis war für ein vergriffenes Markentuch ok, allerdings immer noch ein ganz schöner Happen, zumal ich ja gerade eigentlich das Leinen gekauft hatte. Ich zögerte also kurz, bis mein Liebster mir anbot, mir eine Hälfte zum Muttertag zu schenken (Das ganze hätte ich übertrieben gefunden).

Noch neu und ungewaschen war das Didymos erwartungsgemäß in etwa so kuschelig wie eine Spanplatte, aber nach einer Runde in Waschmaschine und Trockner (ja: Trockner. Soll man nicht. mach ich auch normalerweise nicht. Kriegt aber auch bockigstes Leinen weich 😉 ) war es weich und trotzdem stabil!

Das Leinen ist ungebleicht, auf der einen Seite schusslastig etwas heller, auf der anderen kettlastig etwas dunkler und im ganzen wunderwunderschön.


Ich habe es noch nicht wirklich in ganzer Klamotte ausprobiert, sondern bisher nur probegebunden, aber sobald ich die Modernen Schilder und MIttelpunkt-Markierer ersetzt habe, werde ich mal einen Tagesausflug nach Düppel machen und die neue Schönheit im praktischen Gerauch testen!

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